Milliardenschwindel?

    (Bild: zVg) Johannes Jenny

    Kolumne


    «Unsterblichkeit widerspricht dem Dasein» steht derzeit über einer Tür in der Villa Langmatt in Baden. Meine Lily und ich besuchen immer wieder das herrschaftliche, lauschige und derzeit renovationsbedürftige Anwesen aus den Anfängen von Badens industriellem Aufschwung. Das Museum wurde einst von der Familie Brown bewohnt, also dem ersten «B» von BBC (Brown Boveri & Cie., später ABB). «Unsterblichkeit widerspricht dem Dasein» ist eine von 38 subtilen Textinterventionen der Badener Künstlerin Sandra Senn. Als die Villa Langmatt vor etwas über 100 Jahren gebaut wurde, lebten in der Schweiz gut 3 Millionen, weltweit rund 1,6 Milliarden Menschen. und der Lebensstandard der Bewohner dieser Villa war eine absolute Ausnahme. Vor knapp 20 Jahren löste ich mit einem kolumnenartigen Communiqué ein Rauschen im schweizerischen Blätterwald aus. Anstoss erregte meine Empfehlung an alle, spät und wenig Kinder zu haben. Es hagelte geharnischte Kritik und mir wurde das «Pfui» der Schweizer Illustrierten, der Kaktus verliehen. Der Kaktus hat sich mittlerweile zu einer grossen stachligen Kugel entwickelt. Die Weltbevölkerung hat sich ebenfalls entwickelt: Allein in den letzten 20 Jahren ist sie mit 1,6 Milliarden auf schwindelerregende 7,8 Milliarden gewachsen. Allein der Zuwachs ist damit gleich gross, wie die Weltbevölkerung zur Zeit der Gründung der BBC insgesamt zählte. In der Villa Langmatt lebten einst eine fünfköpfige Familie und etliche Bedienstete, die Arbeiter von BBC dagegen hausten in beengten Verhältnissen. Heute ist der Anspruch auf Wohnraum pro Kopf in der Schweiz so gross wie damals derjenige der begüterten Familie Brown. Jenny Brown-Sulzer starb 1968, kurz vor ihrem 98sten Geburtstag. Sie lag damit im Trend: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen in der Schweiz stieg seit 1900 von 49 auf 85. An einer Baustellenführung beim Kantonsspital Baden erfuhr ich, dass die Hälfte der heute geborenen Mädchen voraussichtlich über 100 Jahre alt werden wird. Wenn sie 50 Jahre alt sind, wird die Bevölkerung der Welt voraussichtlich die 10 Milliarden, die der Schweiz die 10 Millionengrenze überschreiten. Wieviel betragen dann wohl die Schweizer Gesundheitskosten? 2019 durchbrachen sie die 90 Milliardengrenze – ein Schwindel? Fast alle wollen wir die maximale, medizinisch mögliche Restlaufzeit erreichen. Dafür nehmen wir in Coronazeiten einen Verlust der Volkswirtschaft in dreistelliger Milliardenhöhe in Kauf. Die Kosten des Neubaus des Kantonsspitals Baden betragen dagegen «nur» eine halbe Milliarde. Gegenüber dem Corona Schaden der Schweizer Spitäler (mit etwas Glück bloss 2,6 Milliarden), sind die Baukosten fast bescheiden. Die FDP bereitet derzeit eine Enkelstrategie vor. Ziel ist, dass die Menschen in zwei Generationen sich möglichst ebenso gut entfalten können wie wir – also leben, atmen, essen, arbeiten, sich erholen können und ausreichend Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Um dies zu erreichen, schlage ich vor, über den Eingang des neuen Kantonsspitals und überhaupt aller Spitäler Frau Senns Erkenntnis in grossen Lettern zu schreiben: «Unsterblichkeit widerspricht dem Dasein». Sollte Petrus auch freisinnig sein, wird er Gnade walten lassen und in der Gegenrichtung am Himmelstor analog zu den Supermärkten nur noch so viele Kinder an die Störche verteilen, wie müde Seelen ankommen. Das wäre super für die Gesundheit der Menschheit, für die Gesundheit der Erde und ein paar Pflanzen- und Tierarten mehr würden dann auch überleben.

    PS: Man machte mich darauf aufmerksam, dass ja wohl auch müde Seelen zum Teufel gehen, die dann nicht einkalkuliert wären: Wer weiss, wie lange es ginge, bis wir wieder bei Jenny Browns 1,6 Milliarden wären? Schaden würde es nicht.


    ZUR PERSON: Johannes Jenny ist promovierter Biologe, lebt in Baden, war 24 Jahre lang Geschäftsführer von Pro Natura Aargau und sucht derzeit lumpige 10 Millionen für den Kauf von 92 km2 Urwald (2 ½ mal die Fläche des Kantons Basel Stadt) in Argentinien zur Rückgabe an die indigene Bevölkerung. Der Atlantikurwald ist unwiederbringlich, ein riesiger CO2-Speicher und sein unglaublicher Artenreichtum – inklusive Medizinalpflanzen – sollte unseren Enkeln unbedingt erhalten bleiben. Die Verhinderung der Zerstörung dieses Schatzes ist von unschätzbarem Wert für die ganze Menschheit und derzeit für einen Promillebruchteil der Coronaverluste zu haben…

    Vorheriger ArtikelUnternehmen mit Weitblick
    Nächster Artikel«Wir müssen auf Anreize und Innovation setzen»